Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Shusoku Dojos besuchte uns Horst Schwickerath, der Herausgeber des Aikido Journals in Rosenheim. Wir führten ein intensives Gespräch über die Entwicklung des Dojos und die Aikido Geschichte von Doris Wiedenmann und Jochen Maier, beginnend mit den Anfängen in Ulm, bis hin zur Organisation des Internationalen Aikido-Seminars in Bernau am Chiemsee. Das Gespräch wurde von H. Schwickerath aufgezeichnet und unter Mitwirkung von Jochen Maier als Text ausformuliert. Im AJ Heft Nr. 96 wurde das Interview veröffentlicht.
Die ersten Jahre und die großen Lehrgänge bis zur Eröffnung des Rosenheimer Dōjō.
Angefangen habe ich mit Taekwon-Do bei Ulrich Michael, in der Sportschule Michael in Ulm. U. Michael war bekannt als Spezialist für Taekwon-Do und Ju-Jitsu, er hat sich aber auch für Aikidō interessiert. Auf Lehrgängen mit Tada Sensei in Italien hatte er etwas Aikidō gelernt. Eines Tages wurden ein paar seiner Schüler von ihm eingeladen und wir konnten Aikidō ausprobieren. Ich war auch dabei, von der ersten Stunde an, war ich von Aikidō fasziniert. So entstand um 1977 herum eine kleine Aikidō-Gruppe in seinem Dōjō.
Bei den ersten Trainingsstunden hatte ich dann in der Ulmer Aikidō-Gruppe Herrn Tornow kennengelernt, einen seriösen und honorigen älteren Herrn, er war damals so um die 60 Jahre alt. Als Asien-Beauftragter eines großen Konzerns hatte er beste Kontakte und fand darüber einen leichten Zugang zu Aikidō-Meistern in Japan. Übrigens war Hannes Tornow auch Yoga-Lehrer, lange bevor irgendjemand an den heutigen Yoga-Boom denken konnte…
Nach circa einem Jahr, Doris hatte die Internatsschule beendetet, kam sie mit nach Ulm und hat schließlich auch mit Aikidō angefangen. Zu der Zeit wohnten wir in einem kleinen Dorf in der Nähe von Heidenheim. Manchmal fuhren wir die 30 km mit einer wunderschönen, nagelneuen, roten Vespa zum Training nach Ulm. Bei schlechtem Wetter war das etwas grenzwertig, so habe ich bald einen verbeulten Peugeot 204 erstanden, der war unverwüstlich und hat uns treue Dienste geleistet. Schade, dass ich die Vespa verkauft habe, sie wäre jetzt ein schöner Oldtimer.
Durch Herrn Tornow angeregt reiste ich in diesen ersten Jahren zu den Lehrgängen von Tada in Le Brassus/CH (1965 begann Tada dort mit den Lehrgängen). Herr Tornow war mit Tada bekannt, er hat mich damals vorgestellt. In Le Brassus traf ich auch oft auf Hans-Jürgen Klages, auch Heinz Patt habe ich dort kennengelernt. Klaus Broscheit kannte ich bereits durch seine Lehrgänge in Ulm und München. Als in Le Brassus keine Lehrgänge mehr ausgerichtet wurden, sind wir nach Coverciano in der Nähe von Florenz gegangen, um bei Tada zu trainieren. Parallel dazu fuhren wir von Ulm nach Hachen im Sauerland zu den Lehrgängen mit Yamada, die Klaus Broscheit organisierte. Natürlich besuchten wir die Wochenendlehrgänge von Asai, er hat zu dieser Zeit auch in Ulm Lehrgänge abgehalten. Ja, das sollte man nicht vergessen: von Asai habe ich viel gelernt.
Diese ersten, vor allem die internationalen Lehrgänge mit Tada waren die Initialzündung, die Inspiration, es war es die »Geburt meiner Begeisterung« für das Aikidō.
Dann kam die Studienzeit. Doris wollte in Rosenheim Innenarchitektur studieren und ich Geographie in München. Deshalb sind wir beide 1983 nach Rosenheim gezogen. Anfangs bin ich von Rosenheim aus für die Vorlesungen nach München gependelt und hab mich in das neu gegründete Dōjō von Heinz Patt eingeschrieben. Später bezog ich für die Zeit unter der Woche in München ein kleines Zimmerchen in einem Studentenwohnheim. Natürlich war Doris viel schneller mit dem Studium fertig als ich. Wir haben uns eine Wohnung in München gesucht und dort gewohnt, bis wir das eigene Dōjō in Rosenheim eröffnen konnten.
Da ich in München studierte, trainierte ich nun auch in München nahezu täglich im Dōjō von Heinz Patt – von hier aus fuhren wir dann nach La Colle s/Loup zu den Yamada/Tamura-Lehrgängen. Damals unterrichtete Yamada die erste Woche allein, erst in der zweiten Woche kam Tamura dazu.
In diesen ersten Jahren fand das Training in La Colle in einem kleinen Saal statt, der vom WWF für Animations-Veranstaltungen genutzt wurde. Es war mehr als eng. Schon bald wurde dann das große Open-Air Dōjō eröffnet. Jetzt gab es viel Platz, dafür war das Training super-anstrengend, da am Anfang nur wenige Teilnehmer dabei waren, wir viel Platz hatten und Yamada eine komplette Woche das Training gestaltete.
Die Münchner Zeit und viele weitere Jahre bis zu Tamuras Tod waren zum einen geprägt durch die Sommer in La Colle, aber auch von unserer Teilnahme an vielen Tamura-Seminaren in Europa. Ganz besonders einprägsam waren die ersten Seminare in Budapest – damals gab es noch den Ostblock – also vor 1989…
Natürlich auch die USA mit einigen Trainings-Aufenthalten in New York – Was für eine Stadt…toll, für einen begrenzten Aufenthalt, aber dort leben wollte ich nicht.
II
Die Geschichte und Entwicklung der Schule in Rosenheim
1993 eröffneten wir unser Dōjō in Rosenheim – und heuer feiern wir unser 25. Jubiläum …
Die Räume hatten eine besondere Ausstrahlung, waren aber total heruntergekommen. Wir mussten erst einmal Schmutz, Schutt und Staub vieler Jahrzehnte herausschaffen, um dann den Innenausbau des Dōjō in Angriff nehmen zu können – auf diese Weise verbrachten wir endlos viele mühselige Stunden Knochenarbeit.
Rosenheim ist natürlich nicht München und wir standen vor der Frage, wie wir hier genügend Menschen ansprechen wollen, um sie für das Aikidō zu begeistern.
Auch Tamura meinte zu mir, „Warum gehst du nicht nach Berlin?“ Oder schlug beim nächsten Mal Hamburg vor. Aber wir wollten nicht in einer Großstadt leben. Die Nähe zur Natur und den Bergen war und ist uns mehr wert, das ist für uns Lebensqualität…
Möglicherweise ist die Zahl der potentiellen Mitglieder hier geringer als in einer Großstadt, aber die Miete für unsere Trainingsräume ist dafür auch etwas niedriger. Ohne groß über die möglichen Konsequenzen nachzudenken, schloss ich damals gleich einen Mietvertrag über 10 Jahre ab. Wir waren in diesen Dingen sehr unerfahren. Zum Glück ist es ja gut gegangen. Allerding möchte ich dies niemandem zur Nachahmung empfehlen. Die späteren Mietverträge zur Erweiterung unserer Räumlichkeiten habe ich alle mit einem befreundeten Rechtsanwalt besprochen und von ihm prüfen lassen.
Doris war von Anfang an dabei, seit Eröffnung des Dōjō. Wir haben es Stückchen für Stückchen aufgebaut, es entwickelte sich im Laufe der Zeit zu dem, was es heute ist. Es waren dann recht schnell gute Schüler da, die ukemi nehmen konnten und das Training so positiv mitgestalteten. Dass Doris auch unterrichtete, war natürlich sehr hilfreich. So konnte ich an den Wochenenden auf Reisen gehen, meine Seminare geben oder Lehrgänge besuchen.
Mit Eröffnung unseres Dōjō 1993 boten wir auch gleich Yogakurse an. Yoga ist auch eine Passion von mir. Parallel zum Aikidō-Training hatte ich in der Münchner Zeit viel Yoga-Unterricht genommen und täglich Yoga praktiziert. Das war im Sivananda-Yoga-Vedanta-Zentrum.
Auf dieses zweite Standbein setzte ich ebenfalls große Hoffnung. Meinem Enthusiasmus wurde jedoch ein Dämpfer verpasst, zum ersten Kurs kamen nur 2 Teilnehmer!
Doch als ich 1994 meine erste Yoga-Lehrer-Ausbildung abschlossen hatte, kamen bereits mehr Teilnehmer in die Yoga-Stunden
Damals hielt ich die Yoga-Stunden und die Yoga-Anfängerkurse aus Platzgründen immer vor oder nach den Aikidō-Stunden ab. Daher erweiterten wir ca. im Jahr 2000 die Räumlichkeiten und konnten nun Aikidō und Yoga parallel zur selben Zeit anbieten. Kurz darauf, 2005, wuchs unsere Schule ein weiteres Mal: ein großer Yoga-Raum kam hinzu. Dies bedeutete zwar wiederum ungeheuer viel Renovierungsarbeit, doch diesmal machten wir es nicht in Eigenleistung.
Und wir erfüllten uns einen von Anfang an gehegten Traum: wir konnten den historischen Balkon fachmännisch renovieren lassen.
Darauf bin ich schon stolz, denn der Balkon ist jetzt so etwas wie das Wahrzeichen der Schule.
Nach all unseren Erweiterungen besteht unsere Schule nun aus dem Aikidō-Dōjō, dem Yoga-Raum mit Balkon und einer Tee-Lounge, in der sich auch Doris‘ kleiner Aikidō- und Yoga-Shop befindet.
Ganz zum Schluss mieteten wir noch ein Büro und einen Lagerraum für die im Bernau-Lehrgang benötigten Matten dazu.
Zeitgleich zu all unseren Erweiterungen machte Doris eine externe Yogalehrer-Ausbildung und gab nun auch regelmäßig Anfängerkurse und unsere normalen Yogastunden. Als ich dann die erste Yogalehrer-Ausbildung in der eigenen Schule anbieten konnte, war sie natürlich mit dabei.
Ein weiterer bedeutender Schritt für unsere Yoga-Schule war die Zertifizierung zur Ausbildungsstätte für Yogalehrer. Diese Zertifizierung halten wir heuer seit 10 Jahren, ein weiters kleines Jubiläum, über das wir uns freuen und auf das wir auch stolz sind. Im Herbst beginnt bereits der 11. Jahrgang mit der Ausbildung.
Noch neu im Programm ist die Yogalehrer-Fortbildung, für die wir aber auch schon immer mehr Nachfrage erhalten.
Sowohl im Aikidō wie im Yoga sind einige Lehrer von mir ausgebildet worden, die auch in der Schule unterrichten.
III
Aikidō und Yoga - ein wechselseitiges Ergänzen
Vor kurzem fragte mich ein junger Kollege, ob bei uns auch die Aikidō-Krankheit ausgebrochen sei. Er meinte damit die „Krise“ der schrumpfenden Teilnehmerzahlen.
„Nein,“ konnte ich antworten, wir haben leichten Zuwachs, was Hoffnung macht. Es kommen junge Leute, die trainieren und wirklich lernen wollen. Auch Schüler aus der Jugendgruppe wechseln „aus Altersgründen“ immer wieder ins Erwachsenentraining. Eine gesunde Basis ist wichtig, vor allem eine ausgewogene Altersstruktur.
Generell hört man, dass die klassischen Budo-Disziplinen Probleme haben, neue Mitglieder zu bekommen. Kinder und Jugendliche treten schon bei, aber eben wenig Erwachsene. Nun, in unserer schnelllebigen Zeit wollen die Menschen rasch Erfolg sehen und simple Lösungen angeboten bekommen. Die Ausdauer aufzubringen, eine Kunst zu erlernen und viele Jahre, ja Jahrzehnte damit zuzubringen, scheint nicht so erstrebenswert. Ähnliches gilt auch, wenn auch nicht im selben Maße, für das klassische Yoga. Ich beobachte zudem, dass Schüler immer mehr lernen müssen. Studenten haben immer mehr Stress im Studium und viele Leute, die arbeiten, werden von der Arbeit aufgefressen. Das soll heißen, die Freizeit wird weniger, es bleibt weniger Zeit, vermeintlich nutzloses zu erlernen.
Und dann wären da noch die neuen schnelllebigen Trends, die „hip“ und „in“ sind, als „outdoor“ oder “SUP“ boomen und den Leuten „cool“ und „trendig“ vorkommen.
Auch unser Image von Japan ist über die Jahre etwas verblasst und durch den Umgang mit der Fukoshima-Katastrophe bestimmt nicht besser geworden.
Kannten in den 80er Jahren noch viele Leute Zen, Shiatsu oder Ikebana, so höre ich heute, wenn ich in den Yoga-Kursen ein wenig nachfrage: „Zen? Noch nie gehört. Shiatsu? Auch nicht, man geht heute zum Osteopathen. Aikidō? Muss was ganz Exotisches sein.“
Was kann man tun? Ein Patentrezept gibt es wohl nicht. Auf jeden Fall weitermachen und attraktives Training anbieten.
Junge Leute wollen und sollen etwas bewegen, ältere übrigens auch. Den Kopf in den Sand stecken und jammern hilft nicht weiter. Was bestimmt nicht weiter hilft, ist ein aufgeblähtes Funktionärs-Wesen in den Verbänden, das junge, talentierte Lehrer behindert und versucht, künstliche Strukturen aufzubauen. Ein gänzlich verwestlichtes Aikidō führt ins in Nichts. Es sind durchaus auch die kleinen typisch japanischen Rituale, die im Aikidō traditionell praktiziert werden, die gerade auch bei jungen Menschen gut ankommen.
Es ist mein Eindruck aus letzter Zeit, dass Japan und alles Japanische wieder verstärkt im Kommen ist. Ein Land, das Tradition und modernes Leben verbinden möchte.
Zum Glück ist bei uns eine gelungene Balance zwischen Aikidō und Yoga entstanden. Anfangs hatten wir mehr Mitglieder im Aikidō als im Yoga, das hat sich über die Jahre verändert. In den letzten Jahren hat Yoga kräftig zugelegt und jetzt kommt Aikidō wieder stärker auf. Trotzdem können wir uns keineswegs zurücklehnen – 1995 gab es kaum Yoga, heute an jeder Ecke. Selbst die von mir Ausgebildeten beginnen nun zu einer kleinen Konkurrenz zu werden. Es lebt eben.
Unser Vorteil ist natürlich, dass wir seit 25 Jahren vor Ort und bekannt sind. Unsere Schüler kommen teilweise bereits in der dritten Generation zu den Yoga-Stunden. Sie erinnern sich, dass schon Mama dort, Am Roßacker 7, im Yoga war. Eine besonders schöne Variante hatten wir vor kurzem, als eine 13-Jährige ihre gestresste Mama zum Yoga-Kurs anmeldete und selbst auch gleich mitmachte.
Auch Schüler und Studenten im Prüfungsstress, die dringend etwas Entspannung brauchen, kommen sehr gerne zu unseren Yoga-Stunden.
Übrigens wird (das kleine) Rosenheim bald Universitätsstadt! Das hört sich gut an und wir freuen uns, die Möglichkeit bieten zu können, hier Aikidō und Yoga zu machen.
Wollten wir nur von Aikidō leben, könnte das knapp werden aus meiner Sicht. Aber durch Yoga als zweites Standbein ist es für uns möglich, ein schönes entspanntes Aikidō zu praktizieren, ohne den Leuten hinterher rennen zu müssen.
Es ist immer ein Auf und Ab – das höre ich überall; in den ersten fünf Jahren ist alles motiviert – eine Korrelation. Wenn es nachlässt, dann ist die Gefahr groß, dass die eigene Motivation auch nachlässt. Dann sind neue Ideen gefragt, man packt wieder an und gibt nochmals Gas. Klar, das erfordert Energie und Leidenschaft für die Sache. Wenn es dabei nur um den Verdienst ginge, müsste auch ich was anderes machen. Natürlich hoffe ich, dass es weiterhin anzieht, aber letztendlich befindet man wie in jeder anderen selbständigen Tätigkeit auch in einer Form der Abhängigkeit von äußeren Umständen, Trends und Modeerscheinungen. Daher ist die eigene Persönlichkeit immer gefragt, man ist für seinen Erfolg selbst verantwortlich – ein Geben und ein Nehmen.
Auch das Yoga hat sich verändert. Es sind viele neue Stile entstanden. Aus Details des klassischen Yogas wurden neue Stile entwickelt, die sogenannten modernen Yoga-Stile. Aus meiner Sicht ist das - etwas polemisch gesprochen - oft eine Gymnastikform mit Entspannungselementen.
Wenn man von der Jahrtausende alten Yoga-Tradition spricht, meint man sowohl die Yoga-Philosophie, eines der klassischen Systeme der indischen Philosophie, wie auch das Vedanta, das dem Yoga oft als mentale Basis zugrunde liegt.
Das Yoga der Körperübungen ist erst im Mittelalter ins Blickfeld gerückt. Und was wir heute als Yoga kennen, kam in dieser Form in den 60er Jahren nach Europa und Amerika.
Natürlich hat sich auch Yoga weiterentwickelt, das ist ein Prozess, „ein Welterbe“ der Strukturen. Man muss das mit Immanenz und nicht immer nur im Kontext sehen. Das, was ich für mich herausnehme, muss nicht gleich eine Feudalstruktur erschaffen.
IV
„Respekt“ und die Philosophie des „Fremden“ – Austausch der Kulturen.
Im Aikidō lernen wir, andere zu akzeptieren und vor allem zu respektieren. Dies sollte nicht unterschätzt werden. Wenn das nach außen getragen wird, dann ist das etwas Positives, eben das, was heutzutage zu gerne verloren geht. Wie ist der Umgang der Menschen untereinander – oder weiter gegriffen, wie ist der Umgang mit den Ressourcen der Erde, der Natur. Den Respekt, gepaart mit Höflichkeit, was wir im Aikidō lernen, ist ein wesentlicher Aspekt der persönlichen Entwicklung, eine Form von Erziehung. Damit ist nicht das Buckeln vor Autoritäten gemeint, das hatten wir historisch gesehen zu Genüge. Ich meine eine feine, reflektierte Form von Respekt. Die Akzeptanz, nicht die Ignoranz.
Dazu tragen auch die großen Lehrgänge bei, zu denen Menschen aus ganz Europa kommen.
Viele Gruppen aus osteuropäischen Ländern sind beispielsweise im Bernauer Seminar zu uns gestoßen. Doch in den letzten Jahren werden verzeichnen wir auch vermehrt Teilnehmer aus Italien, Spanien und Frankreich. Und auch wieder junge Aikidōkas aus Bayern und Süddeutschland, was mich besonders freut. Wir erleben spannende Begegnungen der verschiedenen Nationalitäten und einen regen kulturellen, fruchtbaren Austausch. Natürlich ist das eine Mikroebene, aber trotzdem...
Schon früh in meiner Aikidō-Laufbahn hatte ich das Glück, einige interessante Japaner kennen zu lernen und mit ihnen über ihre Kultur zu sprechen. Damals, in der Ulmer Zeit kam ein junger Mathematiker zum Aikidō-Training. Er war mit einer Japanerin verheiratet. Sie wiederum war Ikebana-Meisterin, konnte Tee-Zeremonien ausführen und hatte lange Zeit bei einem berühmten Zen-Meister in San Francisco Zen praktiziert und ihn bis zu seinem Tode begleitet. Die Gespräche und Diskussionen mit den beiden waren eine tolle erste Möglichkeit, sich unmittelbar Einblicke in das fremde Denken zu verschaffen.
Niemand kann eine fremde Kultur gänzlich verstehen, das geht nicht mal mit unsrer eigenen. Es sind immer Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, die wiederum entsprechend ihrer Persönlichkeit, ihrer Erfahrung, natürlich auch ihrer Sozialisation handeln. Es ist für mich schon immer interessant gewesen, mich mit einer fremden Kultur auseinanderzusetzen. Ich habe deshalb ja auch Geografie studiert.
Es geht darum „Das Fremde“ mit dem „Eigenen“ zu konfrontieren – das Fremde kann zum „Anderen“ werden und vom „Andern“ ist es nicht mehr weit zum „Eigenen“.
Die Kulturen befruchten sich gegenseitig, integrieren Positives und Negatives einer fremden Kultur oder auch nicht. Das spielt keine Rolle, man muss nichts verändern wollen oder Dominanz ausüben. Man schaut sich die fremde Welt an und wenn es gut geht, reflektiert man auf seine eigene zurück.
Ich bin ein großer Fan des japanischen Schriftstellers Murakami. In einem seiner Romane verarbeitet er die Ideen-Lehre Platons auf geniale Weise! Da verbinden sich auf intellektueller Ebene zwei Welten, wobei die unterschiedlichen Kulturen ihre Identität keineswegs aufgeben.
Eine Reise nach Japan ist bestimmt interessant und sicherlich kann man heute viel günstiger nach Japan fliegen als das zu meinen Aikidō-Anfängen der Fall war. Aber ich persönlich bin der Meinung, dass man durch das Aikidō einen tieferen Einblick in Land, Leute und ihre Denkart erfährt, als dies mit einer kurzen Urlaubsreise in dieses exotische Land möglich ist. Wenn man dann noch zu einem Aikidō-Meister einen guten Kontakt aufbauen kann, dann ist das etwas von Bedeutung. Meine Unterhaltungen mit Yamada und Tamura gewährten mir nach und nach ein Einblick sowohl in die japanische Denkweise als auch in die Verhaltensweise – sicherlich begrenzt, aber es kumuliert… ein Geben und Nehmen …
Als ich Yamada kennenlernte, war das schon sehr familiär. Er saß bei Klaus Broscheit (in Bonn) im Wohnzimmer, als ich dort hinkam. Da war keine Barriere. Wir redeten und dann sind wir zusammen zum Lehrgang nach Hachen gefahren. Yamada saß bei mir im Wagen, auch das war familiär. Also anders, als ich das vorher kennengelernt hatte bei Tada oder Asai, da war viel mehr Distanz.
Klar hatten wir Respekt vor Yamada, aber »nicht so überhöht«. Man sagte zu ihm einfach Sensei, er stellte nicht den Anspruch. Auch bei Tamura ging es leger zu, ein Schulterklopfen, ein Lachen oder eine Frage – normal eben. Daraus entwickelte sich eine Gegenseitigkeit, es ging so weiter.
Da wir damals in Hachen nicht so viele Teilnehmer waren, wie dies heute der Fall ist, waren wir alle oft Ukemi für Yamada– so war man schnell ganz nahe dran. Es gab schon einen engeren Kreis um ihn – und schon bald gehörten Doris und ich zur »Familie« dazu.
V
Bernau
Dann kam, heute würde man sagen, das Bernau-Projekt. Jahr für Jahr haben wir Bernau aufgebaut. Das anfängliche Teilnehmerhoch flachte leider schnell ab, um dann langsam aber stetig zu steigen – bis wir einen rasanten Zulauf hatten.
Wichtig war, dass nicht nur Yamada unterrichtete, oder Yamada und ich. Wenn ein Besucher aus z. B. den USA da war, dann unterrichtete der Gast. Oder ein Höhergraduierter aus Europa, den wir dann gleich zu integrieren versuchten, indem wir ihm eine Unterrichtseinheit zuteilten. Solche Leute kamen im folgenden Jahr meist wieder und hatten oft sogar einige Schüler mit dabei. Dadurch hat sich Bernau nach und nach zu einem echten internationalen Seminar entwickelt.
Das war von Beginn an unser Ziel, wir wollten die Nachmittagskurse nicht nur für einen oder zwei, sondern für viele Lehrer offenhalten – ein Teilen!
VI
Miteinander
Im Prolog des Skripts zur ersten Yogalehrerausbildung von 2008 steht: (…) „Neben den Grundlagen der menschlichen Anatomie und Physiologie, der Yoga-Philosophie ist es vor allem die Art oder die Kunst als Yogi zu leben. Beziehungen Mensch - Mensch, das Sozialverhalten sowie die Mensch - Umweltbeziehung als integrativen Bestanteil des menschlichen Lebens verstehen zu lernen.“
Die Sozialität ist mir wichtig, sowohl im Dōjō als auch im Leben draußen. Als Geschäftsführer des Dōjō kann und muss ich einerseits autoritär, federführend und bestimmend sein. Anderseits suche ich den Dialog mit den Dōjō-Mitgliedern, gehe auf sie ein und versuche, potentielle Probleme aufzufangen.
Ich habe eine »Mini-Kleinst-Firma«, deren Führung die Verhandlung mit Banken und der Vermieterin erfordert. Zudem lege ich großen Wert auf die Gespräche mit den Dōjō-Mitgliedern und Yoga-Schülern. Das Soziale ist ein wichtiger Aspekt für mich. Dies drückt das »ai« ja auch in abgewandelter Form aus – das Zusammenkommen, das Zusammenführen. Das ist im Dōjō laufend gefragt, selbst bei den Techniken.
VII
Yoga und Aikidō - ein kurzer Vergleich
Der Yoga-Boom holt immer mal kurz Luft und dann boomts weiter. Was macht eigentlich den Unterschied zwischen Aikidō und Yoga aus, dies werde ich tatsächlich immer wieder gefragt. Der gravierendste Unterschied ist: Yoga übt man durchaus in einer Gruppe aber ohne einen direkten Partner wie im Aikidō. Tja, und der Partner im Aikidō, der macht was. Er übt gut oder schlecht, ist Anfänger oder hat Erfahrung, sie oder er sind aggressiv oder positiv gestimmt. Das macht die Sache schwieriger, allerding auch ehrlicher. Es entsteht Körperkontakt, dies kann der eine oder andere gar nicht ab. Die ersten „Schritte“ im Aikidō sind nicht so einfach, man braucht ein bisschen Geduld. Klassisches Yoga arbeitet mit dem Effekt von Anspannung und Entspannung, natürlich auch mit Dehnung der Muskulatur, was sich wiederum auf das Faszien-System auswirkt und Stress-Verspannungen abbaut, um nur einen Aspekt zu nennen. So entsteht nach der ersten Stunde bereits ein Wohlgefühl, man geht nach Hause, und wenn die Stunde gut war, ist man entspannt, fühlt sich frisch und sogar etwas mit Energie aufgeladen. Dies ist nach einiger Zeit im Aikidō ähnlich, doch die Einstiegshürde ist höher. Yoga kennt mittlerweile jeder, da braucht man erst mal nicht viel erklären. Yoga ist in der Gesellschaft angekommen, es ist so populär wie Fußball (mit dem Vorteil, dass man nicht verlieren kann). Es trifft den Zeitgeist, ist im Meanstream. Viele Prominente machen Yoga, Schauspieler und Spitzensportler vorneweg. Es wird in Managerseminaren angeboten usw. Yoga wird von den Krankenkassen als Prävention gefördert, das suggeriert Seriosität. Alle diese öffentlichkeitswirksame „Hilfe“ erfährt Aikidō meist nicht. Trotzdem wechseln bei mir immer wieder Mitglieder vom Yoga zum Aikidō oder machen beides. Die Werbung im eigenen Haus, besser kanns doch nicht gehen…
Nach den Anfängerkursen im Yoga oder den ersten Stunden im Aikidō ist selbstverständlich noch nicht sehr viel erreicht. Da fragen schon manche, gibt es denn noch mehr zu erreichen? Nun, im Yoga, um es etwas blumig zu sagen, fallen die Schleier der Illusion, eine zunehmend klarere Sicht auf die Realität kann entstehen. Und im Aikidō ist es die „Freiheit“, die es zu erreichen gilt.
Bei uns im Aikidō ist das Verhältnis der Mitglieder Männer zu Frauen ausgeglichen. Im Aikidō-Dōjō unterrichten eigentlich sogar mehr Frauen als Männer. Zum Yoga kommen natürlich mehr Frauen, doch der Männeranteil wächst.
Die Berufe der weiblichen Mitglieder sind bunt gemischt, oft aus den Bereichen Medizin und Bildung. Bei den Männern sind es eher Führungskräfte und Kreative, auch die IT-Branche ist gut vertreten
Nun sind 25 Jahre Shusoku-Dōjō geschafft. Es ging wie im richtigen Leben mal auf, mal ab, letztendlich immer wieder mehr auf als ab und natürlich geht es nach dem Jubiläum mit neuer Energie und neuem Mut weiter.